2. Kapitel: Das Gemeinschaftshaus

Heute ist wieder so ein Tag: Keine Verabredungen, keine Übungsstunde mit der Stadtkapelle, keine Arzttermine, keine wichtigen Erledigungen und dazu noch super schönes Wetter.

Martha und Egbert sprachen immer wieder davon, dass sie trotz einigen Unbehagens es nochmal versuchen wollen, nach Neuenheim zu radeln, in das sie letzte Woche der Zufall geführt hatte. Ob sie es wieder so vorfinden würden? Ob es das Städtchen überhaupt gibt? Es war ja schon ein bisschen unheimlich, einen Ort zu entdecken, der auf keiner Karte zu finden ist. Und dann noch dazu die merkwürdig freundlichen, geradezu herzlichen Menschen dort, die zwar auch deutsch sprachen und durchaus normal wirkten, aber scheinbar in Frage stellten, ob sie überhaupt in Deutschland seien. Auch wegen der komischen Währung, die sie Comunos nannten.
Hm.
Ja, heute ist der richtige Zeitpunkt, die Tour dorthin ein zweites Mal zu versuchen. Ihre E-Bikes sind geladen; was sie brauchen könnten, ist eingepackt und so geht es los.

Wie auch sonst radeln sie das kleine Wiesental entlang, vorbei an dem Angelteich, der Wassertretstelle und dem Waldspielplatz. Es liegt weniger Müll dort herum; vermutlich machen die Mitarbeiter des städtischen Bauhofes da doch ab und zu mal sauber.

Hinauf führt der Weg wieder durch den Wald zum Sternplatz. Kurz vorher steigert sich die Spannung der beiden: Ob sie wohl den Weg nach Neuenheim wieder finden?

Christiane Kilian lachend

Ja! Als sie zu der großen Kreuzung mit den vielen strahlenförmig abgehenden Abzweigungen gelangen, leuchtet und lacht der helle Weg nach links sie geradezu wieder an. Das nehmen sie als Zeichen und biegen diesmal ohne anzuhalten ab. Hinunter geht es wieder den kurvigen Weg durch den Wald bis zu der Obstbaumallee. Dann den Radweg neben der Straße entlang bis zum Ortsbeginn mit dem Schild „Herzlich Willkommen in der freien Gemeinde Neuenheim“. Sie drehen eine Runde durch das Gewerbegebiet, in dessen grüner Mitte sie beim letzten Mal die netten Menschen beim Imbiss kennengelernt hatten. Wie hießen sie noch?
Ach ja: Apollonia war die junge Frau, die erst vor Kurzem hierher gezogen ist und ihnen ihre Visitenkarten geben hatte. Mist! Die hatten sie doch glatt zuhause liegen lassen. Wie sollten sie dann mit ihr diesmal in Kontakt kommen können?
Dann war da noch Uta. Martha fiel ein, dass sie auf ihre Frage, ob diese Betriebsärztin sei, noch gar keine Antwort bekommen hatte.
Und Gottfried und Theodor arbeiten bei der Erdbau-Firma. Stimmt. Ja, so war das.

Auf ihrer Runde um die Grünanlage mit dem Imbiss/Café mitten drin, sehen sie niemanden von ihren neuen Bekannten. Aber auch diesmal sind viele gut gelaunt aussehende Menschen auf den Wegen unterwegs und sitzen auf den Bänken. Zumindest war es wohl keine Ausnahme bei ihrem ersten Besuch, dass die Menschen hier entspannt, ausgeglichen und fröhlich wirkten. Nirgendwo sehen sie unzufriedene, mürrische oder ärgerliche Gesichter. Kann das denn wirklich sein?

Martha und Egbert radeln wieder in den Ort hinein. Auch dort derselbe Eindruck: Den Menschen scheint es wirklich gut zu gehen und das nicht nur finanziell, denn es sieht alles durchaus nach Wohlstand aus, sondern sie strahlen aus ihrem Inneren eine Zufriedenheit aus, die sie aus Altenhausen nicht kennen. Dort können sie so vielen an der Mimik und der Körperhaltung ihren Unmut und Frust ansehen, ihre Krankheit und die Negativität. Das ist hier in Neuenheim auffällig anders. „Wie kommt das nur?“ fragen sich Martha und Egbert.

Diesmal steigen sie von ihren Rädern ab und schieben sie durch die Straßen, schauen in die Schaufenster der kleinen Geschäfte, sehen die Menschen sich unterhalten und fröhlich zuwinken und Grußworte zuwerfen. Sie blicken auch ihnen beiden in die Augen und grüßen diese Unbekannten freundlich. Mehr als ein Mensch ruft ihnen fröhlich „Ist heute nicht ein herrliches Wetter?“ zu, was beide natürlich bejahen. Die Neuenheimer scheinen sehr kommunikativ zu sein. Martha und Egbert fällt wieder das Schild ins Auge, das auf das Gemeinschaftshaus hinweist. „Wollen wir uns das mal anschauen?“ fragt Martha. Ja. Und so setzen sie sich wieder auf ihre Räder und folgen der Beschilderung.

Christiane Kilian lachend

Es dauert nicht lange und sie stehen vor einem imposanten Gebäude, auf dem `Gemeinschaftshaus ´draufsteht. Es erinnert beide an die Kurhäuser der alten Kurstädte wie Bad Kissingen, Wiesbaden, Bad Pyrmont, Baden-Baden, Karlsbad und so weiter. Nicht, dass Martha und Egbert all diese Städte schon besucht hätten. Aber in ein paar davon waren sie doch und daher wissen sie auch, dass diese in etwa zu gleicher Zeit aufblühenden Städte deshalb auch in ähnlichem Stil erbaut wurden.

Das Gemeinschaftshaus ist also ein großes Gebäude mit einer Säulenvorhalle und zwei kurzen Seitenflügeln. Davor eine Grünfläche mit Blumen eingefasst und einem Springbrunnen in der Mitte, der von allen Seiten erreichbar und auch umrundbar ist. Es stehen Bänke um den Springbrunnen und erstaunlich viele Menschen sind hier unterwegs. Gemütlich sitzend, redend, schauend, lesend. Aber es ist auch teilweise wuselig, weil Kinder und Hunde auf den Rasenflächen tollen und sich sogar schon mit dem Brunnenwasser nassspritzen.

Martha und Egbert stellen ihre E-Bikes an den bereitstehenden Fahrradständern ab und schließen sie sicherheitshalber an, obwohl sie verwundert feststellen, dass das die anderen wohl nicht getan haben. Merkwürdig – und vertrauenserweckend. Diebstahl von Fahrrädern scheint hier in Neuenheim kein Thema zu sein.

Marthas Blick wird in die Säulenvorhalle gezogen, weil dort viele Menschen herumstehen, an die Wände schauen und scheinbar etwas lesen. Neugierig nähern sich die beiden der Wand hinter den imposanten Säulen. Sie entdecken digitale Tafeln. Eine an der anderen, mindestens 5 Stück. Diese tragen Überschriften, die Martha und Egbert schon von weitem gut entziffern können:
„Gesuche“ steht auf einer drauf, „Angebote“ auf der nächsten – was ja durchaus zu erwarten war. Die Tafel daneben trägt den Titel „Informations- und Diskussionstreffen“, dann kommt eine Tafel mit dem Titel „Lösungskreise“ und eine mit „Projekte“ und dann ist ganz am Rand noch eine mit dem Titel „Kulturangebote“.

Ach ja: Und dann ist da noch eine niedriger gehängte Pinwand, eine echte, nicht digitale, die den Titel „Kinder- und Jugendliche“ trägt. Davor stehen Hockerchen und auf einem niedrigen Tisch liegen Papier und Stifte. Hier haben wohl auch Kinder die Möglichkeit, ihre Anliegen aufzuschreiben oder auch aufzumalen, wie sich die an der Pinwand hängenden Werke den beiden Altenhausenern zeigen.
Okay: Unter Kulturangebote können sich Martha und Egbert etwas vorstellen. Konzerte, Ausstellungen, Lesungen gibt es bei ihnen ja auch.
Alles andere wollen sie sich näher anschauen.

Die Menschen stehen vor diesen digitalen Tafeln, lesen und reden miteinander. Wenn sie merken, dass jemand anderes kommt und auch lesen möchte, treten sie zur Seite und schaffen so den Neuankömmlingen Platz. Manchmal führt es dazu, dass man sich verabschiedet und seiner Wege geht, aber Martha beobachtet auch, dass manche sich dann zu einer Sitzgruppe orientieren oder in den rechten Flügel des Gebäudes. Ob sie da dann an dem Thema weiterreden? Martha folgt diesen Menschen mit ihrem Blick und sieht, dass dort wohl ein Café oder Restaurant zu sein scheint. Auf jeden Fall stehen da einladende runde Tische mit Stühlen dran. An manchen sitzen nur zwei/drei Menschen, an anderen wurde der Kreis auf deutlich mehr Personen erweitert. Doch das berührt sie jetzt gerade nicht so, denn sie wird von den Terminals angezogen, die dort stehen. Einige sind niedriger als die anderen – wohl um entweder daran stehen oder daran sitzen zu können. Es scheint an alle Bedürfnisse gedacht zu sein. Die Terminals sehen aus wie Bankautomaten, allerdings nicht so anonymisiert, das heißt, sie sind offen einsehbar. An manchen stehen, an anderen sitzen Menschen und wieder andere sind frei. Das will sie sich auch genauer anschauen, denkt Martha, strebt aber nun doch erstmal auf die digitalen Tafeln zu. Was sind das wohl für Angebote und Gesuche? fragt sich Martha und stellt sich neben Egbert, der das schon studiert hat. Er sagt: „Sieh nur: Das sind scheinbar Stellengesuche und -angebote. Aber mir ist schon aufgefallen, dass es sich wohl nicht nur um Berufliches handelt, sondern auch um Ehrenämter. Denn schau da,“ und er zeigt auf ein Kästchen „da steht: `Vorlesen 1 x in der Woche bei 3 bis 6 jährigen Kindern´ und da `Mithilfe im Garten´ und da `Straße kehren´. Und hier – guck mal! Da steht `Wegen eines Unfalls mit Langzeitschäden benötige ich finanzielle Unterstützung.´ Hm.“
Plötzlich verschwindet alles, was auf der Tafel zu sehen war, und baut sich neu auf. Nun ist es etwas anderes angeordnet und es scheint, als ob Neues dazu gekommen und anderes weggefallen ist. Martha äußert die Vermutung, dass es einen Zusammenhang mit den Terminals gibt und so gehen beide zu einem der freien Dinger und schauen sich das an.

Es ist ein Touchscreen, wie Martha und Egbert sie von Bankautomaten und auch von Museumsbesuchen her kennen. Ein Menü führt sie durch das Procedere. Hier können sie demnach selbst Gesuche oder Angebote eintragen, die dann auf der digitalen Tafel für alle sichtbar erscheinen. Aha!
Aber was steht da nochmal auf den anderen Tafeln? „Informations- und Diskussionstreffen“ und „Lösungskreise“. Was ist das denn? Der Touchscreen bietet natürlich auch dazu einen Tab an. Egbert klickt drauf und kann auswählen zwischen dem Anzeigen der schon terminierten Treffen und Kreise, zwischen denen, die scheinbar inhaltlich feststehen, für die aber noch kein Termin anberaumt ist, und der dritten Möglichkeit, bei der man selbst etwas eingeben kann.
Sie schauen sich die schon terminierten Informations- und Diskussionstreffen an. Es ist einmal eine Ortsbegehung für eine schadhafte Straße, einmal ein Treffen zur Kinderbeschäftigung durch Leihgroßeltern und einmal eines mit dem Titel „Brauchen wir standardisierte Berufsausbildungen?“.
„Wie?“ sagt Egbert zu Martha „Demnach gibt es hier keine standardisierten Berufsausbildungen?“ Ein Mann, der seine Bemerkung gehört hat, schaltet sich ein: „Ihr seid wohl neu hier? Nein, in Neuenheim gibt es keine standardisierten Berufsausbildungen. Wir sind freie Menschen und können den Beruf ausüben, auf den wir Lust haben. Das ist schon sehr praktisch. Wir sind dadurch maximal flexibel und können all unseren Neigungen nachgehen.“ Egbert wundert sich: „Aber ich kann doch zum Beispiel nicht einfach Elektroleitungen verlegen, wenn ich nicht gelernt habe, wie das geht und auf was ich achten muss, damit ich nicht dabei hops gehe?!“ „Nein“ lacht der Mann „so ist es hier natürlich nicht. Wir erlernen schon erstmal die Tätigkeiten, die wir ausüben möchten. Aber dieses Lernen ist halt bisher nicht standardisiert. Und bei dem Treffen da diskutieren wir darüber, ob es vielleicht besser ist, zu regeln, was wer können muss, um eine berufliche oder auch gemeinnützige Tätigkeit auszuüben.“

Martha und Egbert schauen sich an. Das ist ja spannend. Wie kann es sein, dass man beruflich tätig ist und dafür keinen Abschluss hat oder braucht? Das können dann doch nur Hilfsarbeiten sein? Aber wenn das in Neuenheim generell ohne Ausbildungen gehandhabt wird, dann müsste ja hier alles total dilettantisch aussehen, was es aber nicht tut. Fragen über Fragen. Der Mann hat sich mit einem herzlichen Gruß verabschiedet und ist weitergegangen. Die beiden Altenhausener überlegen, ob sie zu dem Diskussionstreffen dazu kommen wollen, um mehr von dem System hier zu verstehen, und schauen, wann es wo stattfindet. Ah: Nächste Woche Mittwochabend hier im Gemeinschaftshaus. Ob man sich dafür anmelden muss? Nein. Okay. Dann müssen sie sich ja nicht festlegen. Ob die Teilnahme etwas kostet? Nein, auch nicht. Bleibt nur die Frage, ob sie dann abends wieder heimfahren wollen – im Dunkeln? Oder ob es wohl auch ein Hotel oder so was in Neuenheim gibt? Sie beschließen die Augen offen zu halten, um sich besser entscheiden zu können.

Dann erforschen sie den nächsten Menüpunkt „Lösungskreise“. Hier sind auch wieder Termine zu finden und alle Veranstaltungen finden in diesem Gemeinschaftshaus statt. Aus dem Geschriebenen geht hervor, dass es vor jedem Lösungstreffen schon ein Informations- und Diskussionstreffen gab oder dass noch eines vor dem Lösungstreffen anberaumt ist. Zur Frage „Wer kann teilnehmen?“ steht immer die Antwort „Fachleute, Betroffene und Interessierte“. Okay: Also ist das auch offen für alle, so wie sie es schon vorher bei den Infotreffen registriert haben. Egbert glaubt aber nicht, dass dann alle auch mitentscheiden dürfen. Das kann ja kaum der Fall sein. Aber wer weiß? Es ist hier ja schon irgendwie anders. „Die spinnen, die Römer!“ kommt Egbert da in den Sinn. Die Neuenheimer vielleicht auch?

Martha und Egbert raucht der Kopf von all den Informationen, die sie in der Säulenhalle aufgesogen haben und viele Fragen schwirren in ihnen herum. Sie brauchen eine Pause und gehen zu dem Bereich, der wie ein Café oder Restaurant aussieht. Es gibt eine Theke und es wirkt wie Selbstbedienung. An den Tischen haben die Menschen Getränke und auch kleine Gerichte vor sich stehen. Okay. Hier könnten sie also einkehren. Aber da fällt ihnen ein, dass sie ja keine Comunos haben. So hieß die Währung hier doch, oder? Hm. An einem Tisch sehen sie eine Mutter mit drei Kindern so ungefähr im Grundschulalter und es scheint, als ob die hier selbst mitgebrachte Speisen und Getränke konsumieren. Ob das hier also erlaubt ist? Martha und Egbert schauen sich um, entdecken aber keine Hinweisschilder darauf. Sie haben ja auch Proviant mitgenommen, trauen sich nun aber doch nicht, sich dazu zu setzen und ihre Leckereien auszupacken. Also beschließen sie, draußen eine Parkbank zu suchen und dort zu picknicken.

Ein kurzer Rundblick reicht und sie sehen eine freie Sitzgruppe sogar mit Tisch zu der sie gehen, um zu rasten und die Eindrücke zu verdauen. Sie packen ihre Brote aus, stellen ihre Trinkflaschen auf den Tisch, öffnen die Dose mit den Gemüse- und Obststücken und lassen es sich schmecken.

Christiane Kilian lachend

Es dauert nicht lange, da kommt ein Paar auf sie zu, das guten Appetit wünscht und sie fragt, ob sie sich dazu setzen dürfen. „Selbstverständlich!“, antworten beide wie aus einem Munde. Die lange Beziehung zwischen Martha und Egbert macht sich auch in solchen Kleinigkeiten bemerkbar. Sie bieten dem Paar von ihren Speisen an, doch die winken lachend ab: „Nein danke! Wir haben gerade dort im Café gegessen. Dabei haben wir Euch beobachtet und sind neugierig geworden. Ihr wirkt, als ob Ihr neu hier seid. Ist das so?“
„Ja, das kann man so sagen.“ antwortet Egbert. „Wir kommen aus Altenhausen und haben nun zum zweiten Mal den Weg hierher gefunden. Beim ersten Mal hat es uns von der Atmosphäre her so angesprochen, dass wir nun mehr wissen wollen, was es hier ausmacht, dass wir uns so wohl fühlen. Aber im Moment tun sich mehr Fragen auf als Wohlgefühl. Denn es ist uns doch arg vieles unklar, was uns uns fremd fühlen lässt.“
„Oh, das können wir gut verstehen,“ antwortet die Frau „denn so ging es uns anfangs auch, als wir vor ca. 5 Jahren die Welt hier entdeckt haben. Aber wenn man mal das Prinzip dahinter verstanden und sich dafür entschieden hat, so auch leben zu wollen, dann kommt man doch schnell rein.“
„Das Prinzip dahinter?“ fragt Egbert nach.
„Ja“ antwortet die Frau. „Wir leben hier nämlich als erwachsene Menschen konsequent auf dem Prinzip der Augenhöhe miteinander.“
„Okay. Erwachsen sind wir auch – sieht man ja.“ lacht Egbert „Und Augenhöhe ist bei mir immer etwas schwierig aufgrund meiner Körpergröße. Das schaffe ich ja nicht mal bei meiner Frau. – Aber das meint Ihr vermutlich gar nicht, oder? Hier gibt es ja auch kleine und große Leute, es sind also nicht alle gleich groß und können sich dadurch auf Augenhöhe begegnen.“
„Ja“, sagt der Mann „das ist natürlich nicht gemeint. Ich erkläre Euch das gleich. Aber erst mal – um ein bisschen mehr mit Euch auf Augenhöhe zu kommen: Ich bin Tristan und das ist meine Frau Walburga. Wir leben jetzt seit knapp 5 Jahren hier – Walli sagte es ja bereits. Und wir wären jetzt nicht hier, wenn wir nicht auch freundlich aufgenommen worden wären und uns wildfremde Menschen von hier ihre Welt erklärt hätten. Und nun übernehmen wir diese Rolle – wenn Ihr mögt. – Wie heißt Ihr denn?“
„Das ist meine Frau Martha und ich bin Egbert“ sagt Egbert. „Dass wir aus Altenhausen kommen, hatte ich ja auch schon gesagt. Wir sind beide in Rente und genießen die Zeit zusammen so ganz ohne Verpflichtungen. Und nun entdecken wir Neuenheim und sind gespannt, was es noch so alles zu bieten hat.“
„Keine Verpflichtungen ist ein gutes Stichwort. Das hat mit dem Gefühl von Freiheit zu tun, gell? Was meint Ihr: Sind wir frei, wenn wir erwachsen sind?“ fragt Tristan.
„Klar.“ rutscht es Martha heraus „Ich weiß noch genau, wie ich als Teenie auf die 18 gefiebert habe: Endlich frei sein und tun und lassen können, was ich möchte – ohne dass die Eltern mir reingeredet haben.“
„Naja, aber dann sind wir ja doch immer wieder viele Verpflichtungen eingegangen mit unseren Jobs, mit unserer Heirat auch füreinander, durch die Kinder und die Verantwortung für sie.“ überlegt Egbert „Und wenn ich an all die Vorschriften und Regeln denke, die an jeder Ecke auf uns lauern, dann muss ich unser aktuelles Freisein doch in Frage stellen.“
„Was für Vorschriften und Regeln meinst Du denn? Und noch dazu an jeder Straßenecke?“ fragt Martha ihren Mann.

Christiane Kilian lachend

„Ach, Du weißt doch, wie ich mich immer wieder über die überflüssigen Straßenregeln ärgere und über die Leute, die sich so arg akribisch daranhalten und null Lockerheit an den Tag legen. Als ob man – sofort wenn man zwei km/h zu schnell ist – jemanden tötet.“
„Ach, das meinst Du. Ja, das stimmt. Da bist Du schnell auf 180.“

„Wir waren beim Thema Augenhöhe“ wirft Walburga alias Walli ein. „Und genau das mit den Tempolimits und den sonstigen Straßenverkehrsregeln ist ein gutes Beispiel. Da, wo ihr herkommt, geht der Staat, das System davon aus, dass die Menschen – auch die Erwachsenen – dumm sind. Man muss sie nicht nur auf jede Kleinigkeit hinweisen, sondern man muss ihnen vorschreiben, wie sie sich verhalten müssen und gleich dazu muss man auf die Einhaltung der Vorschriften achten, also die Leute kontrollieren und sie auch noch bestrafen, wenn sie eine Regel übertreten. Da ist der Staat nicht auf Augenhöhe mit seinen so genannten Bürgern, sondern er behandelt die eigentlich Erwachsenen, die über 18jährigen von oben herab wie kleine dumme Kinder.“
„Ja, so kann man das sehen.“ denkt Martha laut nach „Aber ist es nicht auch so, dass die Menschen sich wie kleine dumme Kinder verhalten und es deshalb nötig ist, sie zu maßregeln? Ich denke da nur an die, die bei jeder Gelegenheit sinnvolle Regeln übertreten. Und das sind nicht nur die jungen Leute. Man muss sie doch erziehen, damit sie anderen keinen Schaden zufügen – und sich selbst auch nicht.“
Tristan lacht: „Ja genau! So dachten wir auch, bevor wir hier angekommen sind. Aber wir stellten dann doch recht schnell fest, dass es ein Teufelskreis ist: Wenn man Menschen wie dumme kleine Kinder behandelt (und wenn sie sich auch so behandeln lassen), dann verhalten sie sich auch so. Dann sind sie nicht bereit, für ihr Verhalten die Konsequenzen zu tragen. Dann sichern sie sich ständig nach allen Seiten ab, um ja keinen Fehler zu begehen, um ja nicht bestraft zu werden. Und dann überlegen sie nicht mehr selbst, was sinnvoll ist und was nicht, sondern sind einfach nur noch brav und gehorsam. Wie kleine Kinder eben angesichts der Stärke der Eltern und Erziehungspersonen machen diese Erwachsenen lieber, was ihnen gesagt wird, anstatt Kraft und Energie in einen anderen Weg nach ihren Vorstellungen zu investieren.“
„Hm. Ja. So verhalten wir uns in vielen Fällen auch: Rechtzeitig den ablaufenden Perso neu beantragen, möglichst schnell den Steuerkram erledigen, ja kein falsches Zeug in die Recyclingbehälter schmeißen, ordentlich alle Abrechnungen machen und so weiter. Wir wollen halt möglichst keinen Ärger haben.“
„Genau das ist es:“ sagt Walli „um keinen Ärger zu bekommen, ist man brav. Genau wie Kinder, die keine Lust auf Ärger mit den Eltern haben. – Aber mir fällt noch ein Beispiel für kindliches Verhalten ein. Wenn man zum Beispiel unsicher ist und Fragen hat, diese Fragen aber nicht stellt aus Scham oder Angst, dumm aussehen zu können.“ Dabei zwinkert Walli mit dem linken Auge.
„Ach, Du meinst unser Verhalten eben im Café?!“ versteht Martha ganz richtig. „Ja – wenn ich es mir so recht überlege, dann stimmt das. Wir waren unsicher und verstanden nicht, was das hier für ein Prinzip ist und haben – anstatt nachzufragen – uns dann dafür entschieden, hier draußen unseren Proviant zu verzehren. Und das ist kindliches Verhalten? Naja, vielleicht erstmal. Aber dann war es doch durchaus lösungsorientiert, indem wir die Alternative gefunden haben.“
„Ja, Kinder können sehr lösungsorientiert sein. Im Grunde ist ja auch jede Vermeidungsstrategie eine Lösung. Aber eben keine erwachsene Lösung. Erwachsene Menschen sind mutig. Und das seid Ihr ja auch.“ sagt Tristan „Denn Ihr seid sehr mutig den unbekannten Weg nach Neuenheim gefahren und stellt Euch dem Neuen, das Euch hier begegnet. Ängstliche und damit kindliche oder auch kindische Menschen würden sich das nicht trauen. Sie hätten wahrscheinlich tausend Vorbehalte und Argumente, weshalb es gaaaanz schlecht ist, solch einen Weg einzuschlagen.“
„Lassen sich eigentlich all unsere Verhaltensweisen und vielleicht auch unsere Gefühle in die Kategorien erwachsen und kindlich einteilen?“ fragt Martha mehr sich selbst als die anderen. Aber da sie es auch ausgesprochen und nicht nur gedacht hat, kommt prompt die Antwort von Tristan: „Ja, tatsächlich ist es so. Hier wachsen die Kinder schon mit diesen Gedanken auf, die dann auch ihr Verhalten bestimmen. Ein sehr bekanntes und von allen verinnerlichtes Prinzip bei uns ist der Spruch `Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch niemand anderem zu.´ Oder andersrum positiv formuliert: `Was Du willst, das man Dir tut, das füg auch allen anderen zu.´“
„Da steckt ja auch das christliche `Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst drin´ Oder?“ fragt Martha.
„Ja, durchaus.“ antwortet Tristan „Also habt nur den Mut zu fragen, was immer Ihr wissen wollt. Vielleicht notiert Ihr Eure Fragen sogar ganz gezielt auf einem Zettel oder im Smartphone? Wir und auch alle anderen hier antworten Euch sehr gerne.“
Da meldet sich Walli nochmal zu Wort und weist die beiden Altenhausener darauf hin, dass in der Vorhalle im Gemeinschaftshaus, also innen drin, die Grundsätze ihres Miteinanders nicht nur aufgeschrieben, sondern auch anhand von Beispielen dargestellt sind. Es dient – wie ein kleines Museum – der Erinnerung an das, was die Menschen hier zusammenhält und als Gemeinschaft ausmacht. Auch Kindergruppen werden immer wieder mal dahin geführt und können erleben und erfahren, was es bedeutet, auf dieser Grundlage miteinander zu leben oder es eben auch nicht zu tun.

Martha stuppst Egbert an: „Das schauen wir uns gleich mal an, gell?!
Aber …“ wendet sie sich nochmal an Walli und Tristan „ich hätte da noch eine Frage“ und zwinkert dabei auch mit dem linken Auge „Gibt es hier so was wie ein empfehlenswertes Hotel oder eine Pension oder so was? Die vielleicht sogar Euros als Bezahlung nehmen? – Wir sind am Überlegen, ob wir an dem Info- und Diskussionstreffen – so heißt das wohl? – zu den Berufen teilnehmen. Denn die scheint es hier ja gar nicht zu geben. Auch so was Verwirrendes!“ sagt Martha.

„Ne, Euros nimmt hier niemand an.“ antwortet Tristan „Niemand von uns kehrt freiwillig in die alte Banken-Welt zurück und hier haben wir unsre Comunos. Die haben eine ganz andere Energie als Euros. Also mit Euro könnt Ihr hier nirgends bezahlen und sie auch nicht tauschen.

Christiane Kilian lachend

Aber es ist bei uns ganz einfach, an Comunos zu kommen, wenn man ein bisschen Zeit hat – oder sie sich nimmt. Schaut einfach bei den Gesuchen da auf der Tafel“ Tristan zeigt zur Säulenhalle „und wenn Ihr da was findet, wobei Ihr helfen könnt, dann bekommt Ihr für jede Minute einen Comuno und damit bezahlt Ihr dann. Oder Ihr geht in den direkten Tausch mit etwas – also Tellerwaschen gegen Essen oder Putzen gegen Übernachtung. Und als drittes gibt es bei uns – sogar für Fremde – die Möglichkeit quasi einen Vorschuss zu bekommen. Ihr zahlt erstmal nichts für die Übernachtung und gebt dann irgendwann anders den Ausgleich in Form von Comunos oder direkter Hilfe.
Aber mehr will ich dazu nicht sagen. Entdeckt besser auf eigene Faust, wie es hier läuft. Denn wir müssen los. Wir haben noch eine Verabredung.“

Damit steht Tristan schon auf, während Walli erschrocken auf ihre Uhr schaut. „Auweia, das wird knapp“ sagt sie und springt ebenso auf. Ein Tschüss, ein Winken und ein „Vielen lieben Dank, schön dass Ihr Euch zu uns gesetzt habt“ von Martha und Egbert und schon sind die anderen beiden weg.

Die beiden Touris in Neuenheim schauen sich an: „Das ist ja ein Ding!“ sagen sie. „Dass es so anders laufen kann! Aber irgendwie spannend, das mit dem Erwachsensein und dem Spruch, der wohl wirklich gelebt wird. Lass uns mal in die Vorhalle des Gemeinschaftshauses schauen, was wir da entdecken können.“

Sie packen ihre Reste zusammen, trinken noch einen Schluck und wollen aufbrechen, da sagt Martha „Lass uns noch einen Moment sitzen bleibe und unsere Fragen sammeln. Sonst gehen sie uns verloren, weil wieder Neues dazu kommt. Ich möchte das hier schon verstehen!“

Egbert ist einverstanden und sie notieren:
– Wie geht das mit den Comunos? Wo kommen sie her? Wie erwirbt man sie? Wie gibt man sie aus?
– Wie kann es sein, dass man im Café scheinbar auch Mitgebrachtes verzehren kann? Das wäre doch ein großer Nachteil für den Betreiber.
– Wo finden wir eine Übernachtungsmöglichkeit, um an dem Abend zu den Berufen teilnehmen zu können?
– Was hat es überhaupt mit dem Thema dieses Informations- und Diskussionstreffens auf sich? (Aber das werden sie ja dann hoffentlich erfahren.)
– Wieso haben hier die Menschen scheinbar so viel freie Zeit? (Bei ihnen in Altenhausen sind doch alle immer am Arbeiten.)
– Ist hier Schwarzarbeit üblich? (weil sie sich ja scheinbar die Comunos einfach so verdienen können ohne angemeldet zu sein.)

Hm. Irgendwie ist das alles schon sehr merkwürdig. Aber Martha und Egbert sind neugierig geworden. Die Atmosphäre, die freundlichen offenen Menschen und das scheinbar so harmonische Miteinander fasziniert sie so, dass sie mehr wissen wollen.

So, die Fragen sind notiert und nun schlendern sie zum Gemeinschaftshaus – vorbei an den Blumenbeeten, den Wiesen und dem Springbrunnen. Sie werfen nochmal einen Blick zu dem Café und registrieren, dass die Mutter mit den drei Kleinen nicht mehr da ist und streben der großen alten Holzdrehtür zu, die nach drinnen führt.

Fortsetzung folgt!

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